Interview mit Herrn Knoch

 

Wo waren Sie und was haben Sie dort gemacht?

 

Ich habe zwei Jahre lang in São Paulo, Brasilien, gearbeitet und dort gibt es die älteste deutsche Auslandsschule seit 1878, denn nach Brasilien sind sehr viele Deutsche ausgewandert. Es war eine Deutsch-Brasilianische Begegnungsschule, die an drei Standorten innerhalb dieser großen Stadt verteilt war. Allein an der Abteilung, an der ich gearbeitet habe, gab es schon dreitausend Schüler. Ihr seht also wie groß die Schule im Vergleich zum Hölderlin Gymnasium war. Dort war ich der Koordinator für Deutsch als Fremdsprache. Erstens war ich dafür zuständig, brasilianische Lehrer/innen, die Deutsch als Fremdsprache unterrichteten, weiterzubilden, mit neuen Unterrichtsmaterialien aus Deutschland zu versorgen und vor allem die über 400 deutschen Sprachdiplomprüfungen für die Schüler abzuwickeln.

 

Die zweite Aufgabe bestand darin, für ältere Schüler, die Abitur machten, der Studienberater zu sein.

 

 

Sind die Schüler anders als hier und wenn ja, was unterscheidet sie am meisten?

 

Die Schüler sind genauso nett, wie die Hölderlin-Schüler, denn ich muss sagen, ich habe immer sehr gerne am Hölderlin gearbeitet. Diese Schüler kommen aus sehr reichen Familien. Dazu gab es mal eine kuriose Situation: es gibt einen Zoo in São Paulo und ich hatte Besuch aus Peru. Die peruanischen Kinder hatten noch nie afrikanische Tiere, wie Nashörner, Nilpferde oder Löwen gesehen. Und dann hab ich mit meinen Schülern besprochen, dass ich von dem Zoo so begeistert war. Diese sagten: „Wir sind da noch nie gewesen, wir fliegen in den Ferien immer auf Safari nach Afrika in die Nationalparks.“ Da wurde mir klar in welchen finanziellen Verhältnissen die Schüler leben.

 

Vielleicht sollte ich etwas zu dem Alltag der Schüler erzählen.

 

Die Schule in São Paulo beginnt um 7:00h. Der Straßenverkehr in dieser 20 Millionenmetropole ist so dicht, dass man für fünf Kilometer 45 Minuten braucht. Man ist aber gezwungen mit dem Auto zu fahren, denn das öffentliche Nahverkehrssystem ist nicht so gut ausgebaut in dieser Stadt. Das heißt, ein typischer Schüler unserer Schule in Brasilien musste um fünf oder halb sechs aufstehen, wurde dann meistens, auch aus Sicherheitsgründen, denn es ist eine Stadt mit vielen Kontrasten zwischen arm und reich und dementsprechend auch vielen Überfällen, von den Eltern mit dem Auto bis zur Schule gebracht.

 

An der Schule sollte er möglichst um halb sieben sein, weil sich sonst dort der Verkehr vor dem Schulgebäude staut. Die ersten vier Stunden hat er jeweils 45 Minuten ohne 5-Minuten-Pause und meistens bis zur 12. Stunde Unterricht. Wenn er früher fertig wird, muss er trotzdem in der Schule bleiben, weil er entweder von einem privaten Schulbus oder von den Eltern mit dem Auto wieder abgeholt werden muss. Das heißt er hat in der Regel einen anstrengenden Schulalltag von 7:00h morgens bis 16:30 Uhr.

 

Dazu ist es eine Begegnungsschule, also gibt es in der Q1 den brasilianischen Schulabschluss mit einigen brasilianischen Fächern und dem brasilianischen Schulkurrikulum.

 

Das heißt, die armen Schüler in der Q1 mussten sich für das Abitur mit den deutschen Fächern vorbereiten und hatten zusätzlich einige Fächer wie Psychologie oder Soziologie um den brasilianischen Abschluss zu machen. Sie haben unglaublich unter dieser Doppelbelastung gelitten. Also Schüler in Deutschland zu sein ist, denke ich, angenehmer.

  

 

Gibt es Sachen die ihnen dort aufgefallen sind, die man hier verbessern sollte?

 

Vielleicht sollte ich vorher noch eine Sache zu dem Schulsystem anmerken.

 

Die Schüler, von denen ich rede, sind die Schüler, deren Eltern Schulgeld bezahlen, denn Bildung ist nicht selbstverständlich. Ich denke, ihr wisst ein wenig über die Lebenssituation in Brasilien, es gibt, wie natürlich in vielen Ländern dieser Welt, viele arme Familien und Kinder, die in Armutsvierteln, den Favelas, leben müssen. Diese Kinder haben nur die nationale Schule und auch nur vier Stunden am Tag Unterricht. Und die Lehrer, zum Beispiel, werden so schlecht bezahlt, dass sie nachmittags auch noch Taxi fahren müssen. Das sind Kinder, die keine soziale Aufstiegschance haben. Ich bin eigentlich sehr froh über das deutsche Schulsystem, dass hier im Grunde genommen alle Kinder die Chance bekommen einen guten Schulabschluss machen zu können und gefördert werden. Ich würde mir aber wünschen, dass manche Schüler in Deutschland es auch mehr wertschätzen würden, dass sie diese Bildung eigentlich gratis bekommen.

 

 

Also ist, um es zusammenzufassen, der große Unterschied zwischen den Schulformen, dass man hier eigentlich immer die Chance hat und es dort davon abhängt ob man reich oder arm ist?

 

Es ist nun mal leider so. Dazu muss man ja auch sagen, wenn ihr aufmerksam die Nachrichten hört, habt ihr sicherlich auch mitbekommen, dass es in Brasilien zur Zeit viele politische Probleme gibt, sehr viele Korruptionsskandale. Das heißt der Staat hat nicht so lange in Bildung investiert und das rächt sich natürlich.

 

 

Finden Sie, ihr Auslandsaufenthalt ist mit einem Schüleraustausch zu vergleichen?

 

Ja, finde ich schon. Ich bin ja das zweite Mal draußen gewesen. Ich war schon mal acht Jahre in Peru und ich denke es bereichert jeden. Und ich kann jedem Schüler nur sagen: Wenn ihr die Möglichkeit habt ins Ausland zu gehen, macht es zumindest im Laufe des Studiums. Eine Tätigkeit im Ausland erweitert eigentlich für jeden Menschen, auch für jeden Schüler, den Horizont. Man nimmt auch anschließend im Alltagsgeschehen oder gesellschaftliche Dinge im eigenen Land anders wahr. Was ich noch sagen wollte: meine Schüler, egal ob reich oder arm waren eigentlich immer sehr nett, sehr natürlich und sehr herzlich. Aber ich bin auch immer auf die Schüler zugegangen, so wie sie sind. Für mich gibt es keine Grenzen im Kopf. Ich wurde dann auch zum Vertrauenslehrer der Schüler da gewählt.

 

 

Das hört sich ja sehr schön an. Um nochmal darauf zurückzukommen was sie eben sagten: es sind damals ja viele Deutsche nach Brasilien gegangen. Heißt das, dass die meisten Schüler an der Schule einen deutschen Hintergrund haben?

 

Es gibt zwei Gruppen. Es gibt die Gruppe, in der es einen deutschen, österreichischen oder schweizerischen Groß- oder Urgroßvater gab. In Deutschland gab es ja sehr viel Armut im 19. Jahrhundert und der Begriff Wirtschaftsmigranten, den wir jetzt manchmal benutzen, der trifft auf Deutsche zu, die in den ländlichen Gegenden, wie im Rheinland, wo es viele arme Bauern gab, lebten. Sie wurden nach Brasilien abgeworben und sind im 19. Jahrhundert ausgewandert. Ein schönes, interessantes Beispiel, um diese Auswanderergeschichte kennenzulernen, bietet das Auswandererhaus im Bremer Hafen, welches dies dokumentiert.

 

Das heißt viele deutsche und deutschsprachige Familien haben ihre Wurzeln in Brasilien im 19. Jahrhundert. Es gibt also Urgroßväter oder Ururgroßväter und -mütter, die daher stammen. Es gibt auch noch ein Hunsrücker-Deutsch, das in Brasilien gesprochen wird. Da gibt es schon sehr viele, die eigentlich an die deutsche Kultur anknüpfen möchten, denn in Brasilien ist die deutsche Kultur sehr beliebt. Es gibt auch im Süden so Städte mit Fachwerkhäusern wie in Süddeutschland und die sind immer touristische Magnete. Dann gibt es allerdings auch, denn São Paulo ist ein Wirtschaftsstandort und eine riesengroße Stadt, viele deutsche Unternehmen, wie Siemens und Bayer.

 

Alle großen deutschen Unternehmen haben dort Firmensitze und so gibt es dadurch auch eine Vorstellung von Deutschland, die sehr positiv besetzt ist und das ist, glaube ich, weltweit so.

 

Jeder kennt Mercedes Benz. Die Deutschen gelten als zuverlässig, als gute Ingenieure und so weiter und sofort. Und deswegen schickt man gerne seine Kinder an so eine Begegnungsschule. Allerdings müssen die Schüler landesweit jedes Jahr in einen Wettbewerb gehen und bekommen dann sozusagen immer eine Evaluation und dadurch eine bestimmte Stellung im System und diese Schule galt immer als relativ gut. Also gerade für brasilianische Eltern, die dann vielleicht gar kein Deutsch mehr sprachen, war das etwas tolles.

 

Noch dazu haben die Kinder ja die Möglichkeit mit dem Abitur in Deutschland zu studieren und ein Studium in Deutschland ist immer noch preisgünstiger für die Eltern als eine Privatuniversität in Brasilien oder in den USA.

 

 

Haben sie auch viel für sich gelernt?

 

Dadurch, dass ich schon acht Jahre in Peru war, kenne ich ein bisschen die lateinamerikanischen Verhältnisse. Was ich gelernt habe ist logistisch in einer 20-Millionen-Metropole zurechtzukommen. Das Leben in einer so großen Stadt, die man mit Shanghai oder Peking vergleichen könnte, erfordert sehr viel Disziplin und Organisation. Ganz sicher ist Brasilien nicht so, wie wir uns das durch Touristenführer so vorstellen. Sonne, Strand, Samba kann man am Wochenende mal haben. Ich habe gelernt, dass Brasilianer sehr sehr viel und hart arbeiten müssen und auch die Eltern der Schüler mussten am Tag arbeiten und noch eine zweite Arbeit in der Nacht dazunehmen, um die Familie ernähren zu können. Was ich jedoch sehr schade finde ist, dass es noch nicht so ein Umweltbewusstsein gibt und dadurch die Umwelt manchmal sehr vernachlässigt wird.

 

 

Sind sie auch sprachlich gut zurechtgekommen?

 

Englisch nützt nichts. Brasilien ist so ein großes Land, dass die meisten Brasilianer nur Portugiesisch sprechen. Ich dachte mit Spanisch komme ich zurecht, aber selbst das war schwierig. Also man muss Portugiesisch sprechen. Portugiesisch ist aber eine schwierige romanische Sprache weil sie, ähnlich wie Französisch, völlig anders ausgesprochen wird als geschrieben. Das war für mich am Anfang sehr schwierig, genauso wie das Spanische dann auf Portugiesisch umzuswitchen, um diese Sprache zu sprechen. Das gab natürlich auch sehr viele Missverständnisse und die Gründe sind folgende:

 

Da die meisten Menschen leider eher unter ärmlichen Verhältnissen leben, gehen sie auf die staatliche Schule, welche es ihnen nicht ermöglicht, Englisch zu lernen. Auch sprechen sie nur ein einfaches Portugiesisch. Wenn du also jetzt ein Portugiesisch als Ausländer mit Akzent sprichst, dann sind 50% der Bevölkerung damit überfordert. Telefonieren geht nicht, denn sie legen den Hörer auf. In einer kleinen Apotheke ein Medikament kaufen oder im Supermarkt eine Frage stellen, da haben die meisten immer jemanden heran gerufen oder sind einfach weggegangen, weil sie aus Höflichkeit auch nicht zeigen wollten, dass sie einen nicht verstehen. Das brachte viele Probleme, man musste immer jemanden finden, der einem hilft.

 

So war ich nach acht Monaten ganz stolz, dass ich ein etwas besseres Portugiesisch sprechen konnte und fragte in der Stadt einen Mann nach einer bestimmten Straße auf Portugiesisch und er sagte sofort: „I don't speak English“. Also Portugiesisch ist eine sehr schwierige Sprache, die ein bisschen gesungen wird. Die Brasilianer an sich sind sehr herzlich, legen aber sehr viel Wert darauf und freuen sich, wenn man sie nett begrüßt.

 

Ich finde ich habe doch noch eine Sache gelernt und zwar sind, finde ich, in Deutschland viele Menschen nicht so dankbar, dass es ihnen eigentlich doch materiell gut geht und sie gehen oft mit einer schlechten Laune in den Laden, in dem sie doch alles kaufen können und dort müssen die Menschen, wie gesagt, oft zwei Berufe haben und zusehen, dass sie irgendwie über die Runden kommen und trotzdem findet man die Menschen freundlich, sie lächeln und nehmen natürlich auch Feste zum Anlass um zu tanzen und Musik zu machen. Sie haben natürlich auch viel Sonne und ein besseres Klima, aber diese Lebensfreude und diesen Lebensmut trotz Schwierigkeiten beizubehalten, trotzdem fröhlich und zuversichtlich zu sein, ist wirklich sehr imponierend. Das wünschte ich mir hier manchmal mehr. Niemand setzt sich dort hin und sagt: „Ach, ich bin Opfer der Verhältnisse“, ergeht in Selbstmitleid und schlechter Laune, sondern man zeigt immer wieder Mut und das ist schon etwas was man aus Brasilien und vielen anderen Ländern mitnehmen kann und was man sich hier im Alltag mehr wünscht.

 

Artikel: Ilayda Aman